Wir Über uns  


7.2.2006

Stefan Gleser

Selbstbildnis mit Stift (Radierung, 1909)

Nur das Fräulein klagt an

"Geboren in Kaiserslautern am 5. April 1880 habe ich im Hause meiner Eltern, Mannheimer Str. 9, Holzhof Herbig, eine wohlbehütete zur Hälfte verträumte, zur anderen Hälfte in unserem schönen Holzgeschäft tollende und durch dick und dünn setzenden Jugend verbracht mit allen üblichen Beulen, Rissen und Unfällen."

So beginnt die Malerin Maria Herbig im Herbst 1924 ihr "Kurzes Lebensbild".

Was die schönen Künste betrifft, so bin ich souverän unkundig, dagegen helfen keine schwierigen Wörter aus dem Lexikon und von der Herbig wusste ich nur, dass sie gegen die Pogrome im November 1938 als einzige Gerechte in Kaiserslautern ihre Stimme erhob.

Dr. Helmut Schäfer, der Erinnerungen an seinen antifaschistischen Vater in einem Buch zusammentrug, ergänzte vor kurzem freundlicherweise die Sammlung der VVN über Maria Herbig. Archiviert sind nun Presseausschnitte, ein Aufsatz der Liedermacherin und Lehrerin Anni Becker und ein Katalog der Integrierten Gesamtschule Kaiserslautern von 1989.

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"Verträumte" und "tollende" Jugend. Später folgen Phasen äußerster Anstrengung im Wechsel zu, gestützt aufs Erbe, kultivierten Luxusleiden. Das kalte Fieber von "immensem Fleiß", wie Hermann Dietrich, der als Kunstpädagoge die Ausstellung organisierte, anmerkt, zu folgenlosen Gedankenspielen und retour.

So floss ein Leben, gegründet auf immer wackliger werdende materielle Unabhängigkeit, in raschen Sprüngen von Kämpfen und Leiden, von Amboß und Hammer sein in das mühsam bewahrte spartanische Idyll. Die erfolgreiche Künstlerin, umworben bei Atelierfesten, wurde zum leicht überkandidelten, einsamen Fräulein, das ihre Küken in der Schürze wärmt. Auch bei ihren Geschwistern herrschten extreme Gegensätze: zwei siechen in der Anstalt dahin, die dritte promoviert in Volkswirtschaft.

Als sie triumphierte: Sieg über die Lungenkrankheit, besteht als eine der wenigen Frauen Deutschlands die Aufnahme für die Kunstakademie in Karlsruhe, studiert bei Hans Thoma, einem der laut Katalog damals angesehensten Künstler, stellt in Darmstadt und in der Lautrer Gewerbeanstalt, der heutigen Pfalzgalerie, aus, wird Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Pfälzer Künstler, schult sich an Käthe Kollwitz, zieht nach ihren Protestbriefen im wahrsten Sinne des Wortes ihren Kopf aus der Schlinge.

Als sie litt: 4 Jahre in einem Sanatorium, Aufenthalt in der Nervenklinik in den Zwanzigern, früher Tod ihres Vaters, den sie liebte, schränkt lieber ihren Lebensstandard ein als Bilder ("meine Kinder") zu verkaufen oder mehr als unbedingt notwendig Malerei zu unterrichten, schreibt Gedichte ("Mir träumt, ich sei verschmäht, verlassen" oder "Königssöhne gibt es im Märchen bloß"), für die sich ein Backfisch schämen würde.

1928 tritt sie der Nazipartei bei. Vermutlich bastelten da sie und ihre Schicht, das kunstsinnig, gepflegte, auf Artistik abgerichtete Großbürgertum ihr Utopia: Kommunisten stellt man die Wand und Thomas Mann in den Bücherschrank.

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Die Pogromnacht:

Kein schneidiger mit Blech übersäter Offizier verteidigt seine "Ehre" und stellte sich vor schutzlose Frauen und Kinder; kein Pfarrer predigt von der Kanzel Nächstenliebe; kein sich stets auf soziale Verantwortung berufender Leistungsträger protestiert für die Stützen der Lautrer Gesellschaft. Das überlassen sie einer bald sechzigjährigen, gesundheitlich angeschlagenen Frau. Und nach der Befreiung keine Anerkennung: "Da waren nicht nur Rote dagegen, da riskierte auch die gutbürgerliche Herbig ihr Leben." So ein Satz fiel nicht. Die betreffende Kaste braucht sich nicht zu verteidigen. Anni Becker weiß warum: "Vermutlich fürchtete man aber die immer noch mächtigen Altnazis, die ja auch nach 45 bald wieder in ihren Sessel saßen."

Für mich sind die Briefe eine eigensinnige Mischung aus flammender Anklage, eilig aufs Papier geworfen und der Hellsichtigkeit, dass wenn Protest, dann abgesichert in Sklavensprache.

"Mein Vater war ein Bürger, aber ein guter Deutscher, v(on) der graden hochanständigen Art." Ein Bürger, aber ein guter Deutscher. Das ist kabarettreif. Ein Bürger könnte demnach Freiheit, 1848, Citoyen bedeuten. "Aber" ist das Gegenteil. Also, "ein guter Deutscher" ist ein strammstehender Untertan. Macht sich da die im Kaiserreich geborene Tochter aus gutem Haus erst mal über die Nationalliberalen, die ihr Vater als protestantischer und vermögender Unternehmer vielleicht gewählt hat, lustig? Nicht zu bändigender Freiheitswille, aber nur mit Genehmigung der Behörde.

Sie fährt fort: "Ich selbst war einer der ersten begeisterten Anhänger Hitlers, als die Bewegung zu uns kam." Karl-Heinz Debus schreibt in "Die Reichskristallnacht in der Pfalz": "Mehr Mut hatte Maria Herbig, eine Malerin aus Kaiserslautern, evangelische Christin, 1928 Aufnahme in die Partei, doch ohne Beitragszahlung und nie richtig dazugehörend."

Weiter in ihrem Brief: "Ich schreibe dieses, damit Sie wissen, wer ich bin. - Ich komme sogleich auf den Zweck dieses Schreibens, indem ich zuerst noch eines unterstreichen möchte: Ein Jude war es, der mit Einbuße seines eigenen Lebens meinen Vater einmal vor dem Tode des Ertrinkens rettete. Sie sehen daraus, dass es auch anständige Juden gibt. Anständige Juden sind unserer Menschlichkeit od(er) Unmenschlichkeit ausgeliefert. Wir selber zeigen uns, wer wir sind, in der Art, wie wir handeln. Es ist der 11. November, soeben ziehen Gesellen der Stadt durch die Stadt, um Wohnungen v(on) Juden zu demolieren - anlässlich des Vorfalles in Paris. Ich bin empört über den Vandalismus, den unsere Vorgesetzten unterstützen.

Ich protestiere.

Unsere Uniformen empfinden wohl, was, (korr. aus: dass) ihnen selber nicht ansteht, das auszuführen hat auch anderen Teilen des Volks nicht anzustehn. Das ist ein (von anderer Hand folgt auf der Rückseite der Photokopie) Beispiel für die Kommunisten, die wir noch hier sitzen haben."

Auch der Satz schwebt verdächtig. An einem "Beispiel" lassen sich Argumente verdeutlichen. "Sitzen" heißt in der Umgangssprache im Gefängnis sein und "noch" bedeutet bald nicht mehr. Sind die Kommunisten also bald nicht mehr in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern, sind sie bald wieder freie Menschen, weil die Pogrome der Nationalsozialisten ihnen ein weiteres Beispiel für deren Brutalität und Unmenschlichkeit liefern?

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Einen Tag später, am 12. November. "Reichskulturkammer!"

"Anläßlich des Erlasses des Herrn Dr. Göbbels an die deutsche Bevölkerung will oder muß ich meinem gestrigen Schreiben noch etwas anfügen. - Es ist nicht die Bevölkerung, die sich diese traurigen Ausschreitungen erlaubt hat.

Was uns in der Tschechoslowakei an den Sudetendeutschen, am eigenen Leib bitter geschehen, als verrucht erschien, das haben wir selbst jetzt gemacht, - planmäßig, an selbst friedliebenden alten einheimischen wehrlosen Juden durchgeführt, auf sinnlose zuchtlose Weise uns an ihrem Eigentum vergriffen."

Auf Befehl der Gestapo folgen vier Wochen Einzelhaft. Die Briefe drohen. Auf einmal sind Prinz und Märchenschloss in Gefahr. Da flammt noch mal Kampfgeist in ihr auf. Die 58 Jährige zwingt sich in der Zelle zu Turnübungen. "Es ist schwer zu sagen und anderen auszudrücken, was einen nicht als menschlich dünkt." Jetzt keine albernen Gedichte mehr. Jetzt sitzt auf einmal Hofmannsthal Lord Chandos in der Zelle, dem die Worte wie Pilze im Mund modern.

Beim Verhör, sie rudert zurück, versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist: "Bemerken muß ich jedoch, dass ich weder mit Juden Umgang hatte, noch mit solchen befreundet war oder geschäftlich zu tun hatte. Weiteres habe ich zur Sache nicht anzugeben."

Sie hat jahrelang von den Erträgen der Holzhandlung gut gelebt. Da waren die Herbigs sicherlich weltoffen und liberal. Ein guter Kunde, der in die Synagoge ging und gleich zahlte war ihnen doch lieber als einer, der in die Kirche lief und gemahnt werden musste. Die Familie, aus der der Lebensretter ihres Vaters stammte, dürfte sie doch gegrüßt haben. Die "verjudeten Kulturbolschewisten" Max Liebermann und Käthe Kollwitz haben sie, so der Katalog, "offensichtlich beeindruckt".

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Sie wird in die Nervenklinik Klingenmünster eingeliefert. Ihr behandelnder Arzt:

"Wenn man sich mit ihr unterhält, so war immer wieder zu beobachten, dass sie sich nicht entschließen konnte, einen Gedanken in klarer Form auszusprechen. Immer wieder wollte sie den Gedanken umformen, verbessern, ohne dass sie eigentlich recht zum Ziele kam. Dabei klagte sie über eine große Ermüdbarkeit und ein rasches Abnehmen ihrer geistigen Spannkraft"

Aber ja doch. Sie hat am eigenen Leib erfahren hat, was man mit Wörtern anrichten kann. Sie hält den Mund. Vielleicht denunziert der Arzt, vielleicht werden ihre Aussagen an die Polizei weitergeleitet. Jetzt überprüft sie ihre Worte auf einmal wie einen falschen Pfennig. Jetzt kein falsches Wort.

Deshalb beobachtet der Mediziner "sie bilde Worte neu und ihr Gedächtnis sei gut." Wörter neu bilden, das hängt mit der Zeit, als sie Karlsruhe studierte, zusammen. Da zuckt Erinnerung auf. Da streiften die zeitgenössischen Dichter sie kurz. Dadaisten oder so was. Da war sie noch aktiv. Da strömt Selbstbewusstsein, an diese Zeit zu denken. Daran klammert sie sich, dass Leben einmal nicht Tagtraum war. Wirres Gestammel hieß plötzlich Kunst. "Steine feinden Verrat", da ist ein neues Wort drin. Hugo Ball aus Pirmasens, dem Namen nach. Und sich jedes Wort überlegen. Das ist jetzt bitter notwendig. "Den Gedanken umformen, verbessern", an einer Seite Prosa arbeiten wie an einer Bildsäule, das steht irgendwo bei Nietzsche. Den reklamieren die Nazis für sich, der ist auch im Irrenhaus gelandet. Aber sie kommt raus. Noch einmal scheint sich die Herbig, überwach, überreizt, trotz schlechter Ernährung und Medikamenten mit federnder geistiger Spannkraft aufzubäumen. Aber davon darf ja nichts nach außen dringen. Jetzt ruhig sein. Sich nicht in die Welt einmischen, damit die Welt nie wieder in ihr Puppenhaus einbricht.

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In ihrer Biographie urteilt Norbert Brenner, 1989 Direktor der Gesamtschule: "Das weist eigentlich eher auf einen geistig tätigen Menschen hin, der um das rechte Wort ringt."

Ein Arzt, der's gut meint, Herbigs Zurückhaltung, Druck der angesehenen Familie, ein gemäßigter Funktionär, es dürfte vieles zusammen kommen. Es findet sich eine handschriftliche Aktennotiz ohne Namen und Datum: "Im übrigen zur genauen Kenntnis nehmen: An maßgebender Stelle ist man froh, wenn es nicht zu einer Verhandlung kommt. Bezüglich des Gutachtens darf ich wohl die Bitte aussprechen, dass es in einer Form gehalten, die nicht irgendwie späterhin im Leben behindernd im Wege steht."

Keine Anklage, keine Entmündigung. Sie kann über ihr Vermögen frei verfügen, ihr Leben wie gewohnt weiterführen. Zum letzten Mal hat sie gesiegt.

Am Ende von Voltaires Roman Candide hält sich der Held aus dem Streit der Welt heraus und bestellt seinen Garten. Am Ende hält sich Maria Herbig aus dem Streit der Welt heraus und füttert ihre Hühner. Sie verstarb 1962.





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