Redebeitrag von Roland Paul
Zum 9. November 1999, 61. Jahrestages der Reichspogromnacht auf der Veranstaltung auf dem Synagogenplatz in Kaiserslautern
Heute jährt sich eines der traurigsten
und beschämensten Ereignisse der deutschen Geschichte zum 61. Mal, die
sogenannte "Reichskristallnacht". Am 9. November 1938 ordneten die
Nationalsozialisten die Zerstörung der jüdischen Gotteshäuser in
ganz Deutschland an. Die Ausschreitungen, die daraufhin in ganz Deutschland
geschahen, waren auf einen Boden gestoßen, der von den
Nationalsozialisten lange vorbereitet war - auch hier in
Kaiserslautern.
In Kaiserslautern war im 19. Jahrhundert im
Zuge der Industrialisierung und des Ausbaus zu einer wichtigen Handelsmetropole
der Westpfalz eine blühende, recht wohlhabende jüdische Gemeinde
entstanden. Als Ausdruck ihres Selbstbewusstseins errichtete sie nach den
Plänen des Karlsruher Architekten Ludwig Levy in den 1880er Jahren im
"maurisch-byzantinischen Stil" an diesem Platz eine stattliche
Synagoge. Sie wurde jahrelang als "Zierde der Stadt" und als
"Perle unter den monumentalen Bauten" der Pfalz
bezeichnet.
Bai Ausbruch des 1. Weltkrieges
veranstalteten die Kaiserslauterer Juden in ihrer Synagoge Bittgottesdienste
für Kaiser, König und Vaterland. Die jungen jüdischen
Männer aus Kaiserslautern meldeten sich bei Kriegsausbruch wie ihre
gleichaltrigen christlichen Freunde freiwillig zu den Waffen. Einer von ihnen
war der Medizinstudent Friedrich Vendig. Er fiel 1916 in den Kämpfen vor
Verdun. Zum Andenken an ihren Sohn begründeten seine Eltern noch im
gleichen Jahr die mit einem Stiftungskapital von 5.000 Mark ausgestattet
"David und Lina Vendig-Kriegerstiftung". Jährlich, am Geburtstag des
gefallenen Sohnes, sollten von den Zinsen ortsansässige
hilfsbedürftige Soldaten, Kriegerwitwen und Kriegswaisen, später die
Armen der Stadt unterstützt werden, ohne Rücksicht auf den Glauben.
Doch diese Großzügigkeit und der hohe Blutzoll wurde weder den
Vendigs noch den anderen elf jüdischen Familien aus Kaiserslautern, deren
Söhne und Brüder im ersten Weltkrieg gefallen waren, von ihren
christlichen Mitbürgern gedankt.
Mit Beginn der Naziherrschaft mussten
sich auch die Juden in unserer Heimat sagen lassen, dass sie als
"Nichtarier" nicht die gleichen Rechte hätten wie die
Angehörigen der sogenannten "nordischen Rasse". Unbescholtene
gute Bürger wurden jetzt verunglimpft und verfolgt. Antisemitische
Strömungen waren jedoch in Kaiserslautern nichts neues. Schon im
ausgehenden 19. Jahrhundert erregte der hiesige Buchhändler August
Gotthold, dessen Vorfahren selbst getaufte Juden waren, mit den von Ihm
verlegten antisemitischen Schriften großes Aufsehen. Wenn auch das
Verhältnis zwischen Juden und Christen im ersten Drittel des 20.
Jahrhunderts nach außen hin als gut galt, unterschwellig waren aber stets
antijüdische Strömungen spürbar, wie mir Zeitzeugen
bestätigt haben. Die nationalsozialistische Wochenzeitung "Der
Eisenhammer", die seit März 1926 zunächst in Pirmasens, dann in
Lambrecht erschienen ist und zeitweise hohe Auflagen hatte, war
maßgeblich an der frühen Judenhetze in der Pfalz beteiligt. Ihr
Hauptschriftleiter und später Eigentümer, der Dannenfelser
Bürgermeister Fritz Heß, beschrieb darin eine Greuelpropaganda, die
Julius Streichers "Stürmer" kaum nachstand. Schon bald nach der
Machtübernahme hatte im April 1933 mit dem Boykott jüdischer
Geschäfte, Anwaltskanzeleien und Arztpraxen die menschenverachtende
Politik der Nationalsozialisten ihren Anfang genommen. Juden sollten aus dem
Wirtschaftsleben und dem öffentlichen Dienst ausgeschaltet werden. Viele
Betroffene sahen sich in ihrer Not zur Emigration ins Ausland
gezwungen.
Die im September 1935 beschlossenen
"Nürnberger Gesetze" erkannten den Juden bürgerliche Rechte
ab und verboten "Eheschließungen zwischen Juden und
Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes". Auch an den
Eingängen pfälzischer Städte und Gemeinden, in Badeanstalten und
Parkanlagen wurden Schilder aufgestellt mit der Aufschrift "Juden sind
hier unerwünscht" oder "Juden und Hunden ist der Zutritt
verboten". In Kaiserslautern stand direkt neben der Stiftskirche ein
"Stürmerkasten".
Angesichts dieser Demütigungen
verließen auch viele Kaiserslauterer Juden, vor allem die jüngeren,
ihre Heimatstadt, emigrierten ins benachbarte europäische Ausland, nach
Palästina, Nord- oder Südamerika. Viele ältere blieben. Sie
verstanden die Welt nicht mehr. So schrieb der 82jährige Vorsitzende des
Rabbinatsbezirks Bad Dürkheim-Ludwigehafen, Ludwig Strauß, 1937
"62 Jahre bin ich mit der Dürkheimer Gemeinde verbunden. Dass
ich heute in den späten Herbsttagen meines Lebens noch den Zerfall meiner
vormals so blühenden und wohlhabenden Gemeinde erleben muss, das ist
für mich eine Betrübnis, die bis an mein Ende in mir haften
wird." Und wenige Monate später schrieb er: "Die Jugend
verlässt uns, eine vergreiste Gemeinde bleibt zurück. Aber je
mehr unsere Zahl zusammenschrumpft - um so treuer und fester wollen wir
zusammenarbeiten, uns brüderlich und schwesterlich zur Seite
stehen,.."
In Kaiserslautern musste die
prächtige Synagoge bereits im Spätsommer 1938 weichen.
Oberbürgermeister Imbt ließ im Juli den Vorsitzenden der
jüdischen Gemeinde Kaiserslautern, Justizrat Dr. Blüthe, ins
Stadtbaus rufen und teilte ihm mit, dass die Synagoge nicht in das
Stadtbild und in den Plan zur Erweiterung und Verschönerung der Stadt
passe. Rabbiner Dr. Sally Baron schrieb dazu in seinen Erinnerungen:
"Wenige Tage darauf versammelte sich die Gemeinde in der Synagoge, um ihre
erzwungene Einwilligung hierzu abzugeben. Schweigen und Trauer lag über
dieser Versammlung und es wagte selbstverständlich niemand ein Wort des
Widerspruches. Der Vorsteher ließ sich beauftragen, den Wunsch an die
Stadtgemeinde zu richten, dass wenigstens bis nach den kommenden hohen
Feiertagen die Synagoge der Gemeinde überlassen bliebe. Aber dieses Gesuch
wurde abgelehnt oder gar nicht beantwortet. Donnerstag, den 25. August wurde
dem Vorsteher beschieden, dass vom kommenden Sonntag ab die Synagoge nicht
mehr von der Gemeinde benutzt werden dürfe. Am Samstag, dem 27., hielt der
Rabbiner vor dem Havdalah (das am Ausgang des Sabbats gesprochene, von
besonderen Zeremonien begleitete Gebet) eine letzte Rede, die Abschiedspredigt
in der Synagoge. In ungewöhnlicher Zahl war die Gemeinde versammelt,
schmerzerfüllt, dass sie die ihr so liebe Synagoge hergeben
musste, dass dies der letzte Gottesdienst in ihr sein müsse, den
sie unter Weinen mit dem Sprechen der drei jüdischen Bekenntnissätze
beschloss, und gleichsam wie das letzte Aufflackern des Lebenslichtes
eines Sterbenden leuchtete das Licht der Havdalahkerze..."
Bald darauf erfolgte die Sprengung der
Synagoge, was auf Veranlassung der Stadt in einem Film festgehalten
wurde.
"Wir haben die Berechtigung", so
heißt es in einer Verlautbarung in der "NSZ-Rheinfront" vom 29.
August 1938, "diesen Abbruch der Synagoge als siegesfrohes Ruhmesblatt in
das Geschichtsbuch einer nationalsozialistischen Stadt einzufügen."
Und als der Film wenige Wochen nach dem Abbruch den Herren Ratsmitgliedern
vorgeführt wurde, gaben diese wohlgefällig, ich zitiere aus dem
Ratsprotokoll, "ihre Befriedigung über die neue Art der
Gemeinschaftsarbeit mit der Stadtverwaltung in anerkennenden Worten
Ausdruck."
Die sogenannte "Kristallnacht" war
dann der Höhepunkt der Judenverfolgung in Deutschland. Es sollte die Rache
des Deutschen Reiches auf das wenige Tage zuvor in Paris verübte Attentat
eines jungen polnischen Juden an dem deutschen Botschaftsangehörigen Ernst
vom Rath sein. Die "Aktionen... sind nicht zu stören", befahl
Gestapo-Chef Müller in einem Fernschreiben aus Berlin allen
Gestapo-Stellen im Reich. Dort, wo Nachbargebäude der nichtjüdischen
Bevölkerung hätten in Mitleidenschaft gezogen werden können, sah
man von einer Brandsetzung ab, schleppte mitunter aber
Einrichtungsgegenstände und sogar Thorarollen ins Freie, zündete sie
an oder verwüstete die Synagogen im Innern. 21 Synagogen wurden damals in
der Pfalz zerstört oder angezündet, ungezählte jüdische
Geschäfte und Wohnungen verwüstet, Menschen misshandelt und in
Konzentrationslagern eingesperrt.
In Kaiserslautern fielen am 10. November
über einhundert jüdische Geschäfte und Wohnungen dem
blindwütigen Vandalismus fanatischer Nationalsozialisten zum Opfer. Einer
der Zerstörungstrupps wurde sogar von einem Gymnasiallehrer geleitet. Mit
seinen Schülern beteiligte er sich an der Zerschlagung fremden Eigentums.
Rabbiner Dr. Baron schrieb über die Ereignisse an diesem Tag: "Am
Abend dieses schrecklichen Tages, an dem in Kaiserslautern alle männlichen
jüdischen Personen zwischen 16 und 65 Jahren in das Konzentrationslager
Dachau überführt wurden, kamen um 7 Uhr Abgesandte der Partei in alle
jüdischen Häuser und erklärten, dass die gesamte
jüdische Bevölkerung der Stadt bis Mitternacht die Pfalz zu verlassen
habe. Mit Handgepäck und Rucksack mussten sie unter dem Gejohle des
Pöbels, der auf den Straßen Spalier stand und sie verspottete, zur
Bahn ziehen, denn Fuhrwerke zu benutzen war ihnen verboten, und auch sonst
wagte niemand von der Bevölkerung ihnen irgendwie behilflich zu
sein." Der angesehene jüdische Arzt Dr. Wertheimer nahm sich am Abend
des 10. November aus Verzweiflung das Leben; seine psychisch erkrankte Tochter
wurde später von den Nazis in einer sogenannten Reichsanstalt ermordet.
Rechtsanwalt Dr. Robert Tuteur beging am 1. Dezember 1938 im
Konzentrationslager Dachau Selbstmord.
Das Ende der alten jüdischen Gemeinde
Kaiserslautern kam 1940. Im Oktober 1940 wurden über 6500 Juden aus Baden,
der Pfalz und dem Saarland an diesem Tag auf Betreiben des Badischen Gauleiters
Robert Wagner und des Gauleiters der Saarpfalz, Joseph Bürckel, in das im
unbesetzten Frankreich gelegene Internierungslager Gurs deportiert. Für
viele von ihnen war dies nur eine Zwischenstation in die Vernichtungslager von
Auschwitz, Majdanek, Sobibor und Buchenwald.
die Gaskammern der Konzentrationslager
überlebt: Willi Bender, Else Hene, Emil Hene, Ernst Heimann, Richard
Kohlmann, Else Kohlmann, Maria Kühn, Hermine Lacher, Betty Preis und
Richard Schwarzschild.
Eine mit einem Juden verheiratete Christin
aus Kaiserslautern wurde 1943 wieder aus Frankreich nach Deutschland
zurückgebracht und zur Zwangsarbeit eingesetzt. Zwei Mädchen gelang
die Flucht in die Schweiz. Fünf Kinder wurden dank des Einsatzes von
Hilfsorganisationen, aber auch durch das Engagement einzelner Franzosen, in
Kinderheime gebracht. Sie überlebten. Eine Frau konnte noch im Februar
1942 nach den USA auswandern. Acht Frauen und Männer durften 1945 die
Befreiung erleben, einige blieben in Frankreich, andere wanderten in die
Vereinigten Staaten aus. Bertha Werle und Rosalie Fröhlich kehrten nach
Kriegsende nach Kaiserslautern zurück, entkräftet und
abgemagert.
Auch während des Krieges, 1942 und 1943,
sind einzelne jüdische Personen, die 1940 noch hier bleiben konnten, in
die Konzentrationslager, vor allem nach Theresienstadt, deportiert worden.
Unter ihnen waren beispielsweise Jeannette Korn, geb. Löwenstein und ihre
20jährige Tochter Erna Korn. Der Vater war Christ, stammte aus Erlenbach,
starb aber schon 1930. Die Tochter, geboren 1923 in Kaiserslautern lebt heute
noch im Emsland. Sie erinnert sich noch lebhaft an ihren Schulbesuch in der
Barbarossaschule, später bei den Franziskanerinnen, vor allem aber an die
Pogrome im November 1938, als ihre gesamte Wohnungseinrichtung
zertrümmert wurde und sie mit ihrer Mutter an das Grab des Vaters auf dem
Lauterer Friedhof flüchtete, um sich dort auszuweinen. 1940 sollten sie
nach Gurs deportiert werden. Ihr Hausarzt bewahrte sie durch ein
ärztliches Attest vor dem Transport. 1942 sollten sie beide wieder
deportiert werden. Doch man ließ sie schließlich zunächst in
Ruhe. 1943 wurden sie schließlich von der Gestapo abgeholt. Sie kamen
nach Auschwitz-Birkenau. Die Mutter wurde dort 1943 ermordet. Die Tochter kam
dann als Halbjüdin in das Lager Ravensbrück, wo sie schließlich
1945 die Befreiung erleben durfte. Nur wenige der überlebenden
Kaiserslauterer Juden kehrten nach dem Krieg wieder in ihre Heimatstadt
zurück. Zu vieles hatten sie hier erleben müssen. Das Zusammenleben
mit Menschen, die ihnen das Leben so schwer gemacht haben, wäre für
sie auf die Dauer nicht tragbar gewesen.
Heute leben noch einige Dutzend
Kaiserslauterer Juden im Ausland, in Israel, Südafrika, -Südamerika,
Frankreich, Schweden, insbesondere in den USA. Mehrere von ihnen habe ich dort
in den letzten 20 Jahren besucht. Einige möchten nie mehr in ihre Heimat
zurückkehren. Andere waren schon wiederholt zu Besuch hier, wie z.B.
Werner Maas, Herbert Tuteur und Gerda Kayem. Die meisten warten auf eine
Einladung ihrer Heimatstadt, wie dies viele deutsche Städte, Kreise und
Gemeinden schon längst getan haben. Die Stadt Kaiserslautern hat diese
Einladung bis zum heutigen Tag nicht ausgesprochen. Auch hoffen die
Überlebenden noch immer auf eine Gedenktafel für die nahezu 200
jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und auf eine
würdigere Gestaltung dieses Platzes, wo einst die Synagoge stand.
Denn, so lautet eine jüdische Weisheit:
"Vergessen wollen verlängert das Exil -
Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung."
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